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Simon Schlattmann im Interview: "Ihr habt mir gezeigt, dass ein Leben mit Behinderung glückt"

Der Mutmacher gegen den Krebs

Wir sind wieder auf einen Artikel gestoßen, der uns sehr angesprochen hat. Das Thema: Krebs. Der Artikel berührt und macht sehr viel Mut. Die Autorin Elke Tonscheidt hatte Gelegenheit mit Simon Schlattmann „zu sprechen, der als Kind ein Bein verlor und bis heute viele lebensbedrohliche Situationen durchmachen musste“.

Wir dürfen den Beitrag mit Genehmigung der Gründerinnen des Blogs ohfamoos bei uns noch einmal veröffentlichen:

Manchmal begegnet man Menschen, die wahre Mutmacher sind. So ging es mir mit Simon Schlattmann, der als 11-jähriger ein Bein verlor und bis heute viele lebensbedrohliche Situationen durchmachen musste. Eine Schulfreundin vernetzte uns – Sabine vom Verein Herzenswünsche weiß, welche Leute ohfamoos gern interviewt…

Gehört hatte ich schon von dem Verein, der 2017 seinen 25. Geburtstag feierte: Herzenswünsche erfüllt schwer kranken Kindern und Jugendlichen lang ersehnte Wünsche, um neue Kraft zu geben. Wie sehr Simon davon profitiert hat, drückte der heute 38-Jährige in einer Ansprache vor 300 geladenen Gästen aus: „Herzenswünsche hat meinen Krebs nicht besiegt und hat ganz bestimmt nicht mein Bein nachwachsen lassen. Aber ihr habt mir gezeigt, dass ein Leben mit Behinderung glückt und ich auch mit nur einem Bein viel Spaß im Leben haben kann. Was seid ihr für ein Glück. Danke – macht weiter so.“

Simon, kürzlich haben Sie einer Journalistin geantwortet: „Ich lebe, bin 38 Jahre alt und habe einen gesunden zweijährigen Sohn. Zwar fehlt mir ein Bein, der Tumor im Hals ist noch da, hält aber seit über 20 Jahren still, und mir geht es gut.“ Woher nehmen Sie ihren so ansteckenden Optimismus?
Wenn ich heute meinen Sohn Emil angucke, würde ich sagen, es sind die Gene. Er scheint genauso ein fröhlicher Powerbrocken zu sein, wie ich es früher war. Aber es ist wohl noch weit mehr.

Sie erkrankten bereits als Kleinkind schwer…
Ja, im Alter von elf Jahren. Mir wurde ein Knochentumor diagnostiziert, aber ich habe dessen Dimension nicht verstanden. Ich wusste, ich habe Krebs, war mir jedoch sicher, es muss ein anderer Krebs sein, als der, an dem die alten Leute sterben, Kinder können ja noch nicht sterben. Also habe ich mich durchgebissen.

Aufgeben ist nicht Ihre Art, richtig?
Genau. Auch als ich merkte, es gibt doch nur eine Art Krebs – denn viele MitpatientenInnen mussten leider sterben… Doch bereits nach der ersten von drei Krebserkrankungen war Aufgeben und Verlieren keine Option mehr für mich.

Zitat von Simon Schlattmann

Ich hatte überlebt und der Krebs verloren, das wollte ich nicht mehr hergeben. So ist es bis heute geblieben.

Sie haben durch den Krebs ein Bein verloren.
Ja und mir war klar: Wenn der Preis fürs Überleben, fürs Weiterleben, eines meiner Beine ist, dann gäbe ich auch noch mein zweites, wenn ich müsste. Das Leben ist doch viel zu schön um aufzugeben!

Schon früh hat der Verein Herzenswünsche Sie unterstützt, diesen Lebensmut nicht zu verlieren. Dadurch konnte u.a. Ihr großer Jugendtraum, Michael Jackson zu treffen, erfüllt werden…
Und mehr! Denn am absoluten Tiefpunkt meiner Erkrankung – ich war 17 Jahre und ein neuer Tumor im Hals diagnostiziert – konnte ich der neuen Bedrohung wirklich nicht mehr so viel Lebenssinn entgegensetzen. Die Ärzte gaben mir damals kein Jahr mehr. Ich war zwar noch nicht endgültig bereit aufzugeben, aber viel hat nicht gefehlt…

Was passierte dann?
Wera Röttgering, die Herzenswünsche e.V. gegründet hatte, setzte sich gegen viel Kritik durch und stellte mir eine Reise zu den Paralympics in Atlanta in Aussicht. Das hat mich enorm motiviert!

Zitat von Simon Schlattmann

Später dann Tausende Hochleistungsprofisportler mit Behinderung zu sehen, die ausgelassene und fröhliche Stimmung im Olympischen Dorf, in den Stadien, ja der ganzen Stadt in mir aufzunehmen, fast aufzusaugen, das hat mir vielleicht das Leben gerettet.

Sie haben zu sich zurück gefunden?
Ja, plötzlich wusste ich wieder, wofür es sich zu leben lohnt. Und dass das als Mensch mit Behinderung mindestens genauso glücklich und zufrieden geht, wie für alle anderen auch. Diese Eindrücke, diese Erkenntnisse halten bis heute.

Ihre Krebserkrankung war aber nicht der einzige Schlag in Ihrem Leben…
Leider hat sich Ende 1993 mein älterer Bruder das Leben genommen. Ich hatte gerade meine zweite Erkrankung hinter mir, wir waren als Familie wieder auf einem guten Weg zurück in die Normalität. Plötzlich lag dieser wieder in Trümmern.

Wie konnten Sie weiter leben?
Wie meine Eltern meine Erkrankung und Philipps Tod überlebt haben, verstehe ich bis heute nicht. Was ich aber weiß: Der kurze kleine Moment des Zweifelns, der in der einen oder anderen ruhigen Minute immer mal wieder über mich hereinbrach, ob ein Überleben gegen Krebs, ein Leben mit Behinderung wirklich möglich war, hatte fortan keine Bedeutung mehr. Meine Eltern so am Boden zu sehen machte mir deutlich: Du darfst jetzt nicht auch noch gehen. Ableben war noch weniger eine Option als vorher. Ob er mit seinem Tod wirklich exklusiv dieses Ziel verfolgte, darf angezweifelt werden.

Zitat von Simon Schlattmann

Es ist auch müßig zu spekulieren, ob ich nicht auch ohne seinen Tod überlebt hätte, was ich für sehr wahrscheinlich halte. Fakt ist, er ist nicht mehr da und ich lebe noch und zumindest das ist gut so.

Seit knapp vier Jahren leiten Sie nun das Familienhaus in Münster. Was ist dort anders als in Kliniken?
In Kliniken geht es vorrangig um die Behandlung der Patienten, da steht die Familie oft nur nebenbei. Natürlich werden sie miteinbezogen, aber wenn in einem Vierbettzimmer vier krebskranke Kinder liegen, dazu noch jeweils ein Elternteil, ist diese „Wohnsituation“ nur noch eine weitere Belastung.

Kann denn „Ihr“ Haus eine Art Familienleben schaffen?
Genau das ist das Ziel – Familien von Patienten in Sichtweite zum Klinikum und in ruhiger Atmosphäre ein wenig Abstand zum Behandlungsalltag zu ermöglichen.

Zitat von Simon Schlattmann

Wir verstehen uns als ein Ort der Zuflucht, des Ausgleichs, in dem sich die Familien fast wie zuhause fühlen können.

Hier gibt es ein nettes Wort, ein Stückchen Kuchen und einen Kaffee. Oder ein offenes Ohr, eine Schulter und ein Taschentuch.

Die Idee solcher Häuser ist alt. Wie unterscheidet sich das Familienhaus in Münster von anderen Einrichtungen dieser Art?
Zum einen hat meine Mutter diesen Verein gegründet, nachdem wir als Familie den Klinikalltag erleben mussten, das große Glück hatten aus Münster zu kommen und daher größtenteils zuhause leben konnten. Zum andern wurde dieses Haus allein zu diesem Zwecke neu gebaut. Das heißt, die Räumlichkeiten konnten so gestaltet werden, dass sofort ein visueller und atmosphärischer Ausgleich zur Klinik stattfindet. Zudem versuche ich diese Idee durch meine eigenen Erfahrungen angemessen, einfühlsam und glaubwürdig zu vermitteln. Sowohl meinen KollegInnen als auch den Gästen gegenüber. Aber auch in der Öffentlichkeit und vor Spendern, auf die wir nach wie vor angewiesen sind.

Die Direktorin der Kinderonkologie am UKM hat 2016 anlässlich des 20jährigen Bestehens des Familienhauses gesagt: „Es ist aber nicht nur die Nähe zum Klinikum, hier haben die Menschen nicht bloß ein Bett, sondern auch Zuflucht in extremen Situationen.“ Können Sie das an einem Beispiel erläutern?
Vor zwei Jahren lebte eine russische Familie bei uns im Haus. Der Sohn war an einem Gehirntumor erkrankt, die Tochter wurde in Münster geboren. Die Behandlung des Jungen wurde durch eine russische Stiftung finanziert. Nachdem die Familie mit ungewisser Prognose wieder nach Hause reisen durfte, kam sie regelmäßig zur Kontrolle nach Münster.

Zitat von Simon Schlattmann

Beim zweiten Besuch wurde erneutes Tumorwachstum im Kopf festgestellt und die Ärzte sprachen dem Jungen keine Überlebenschance zu. Sie wollten zwar noch eine alternative Therapie ausprobieren, aber diese hatte eher palliativen Charakter.

… was die Stiftung vermutlich eher nicht finanzieren wollte?
So ist das. Sie war nicht bereit eine palliative Behandlung im Ausland zu finanzieren und orderte die Familie nach Moskau. Zum Glück hat sich die Familie dem widersetzt.

Wie konnten Sie helfen?
Wir haben die Familie erstmal kostenlos hier wohnen lassen und haben mit der Dolmetscherin versucht andere Geldquellen anzuzapfen. Gleichzeitig haben wir unsere guten Kontakte ins Klinikum genutzt, so dass der Junge auch ohne Vorfinanzierung schon behandelt werden konnte. Mit Hilfe etlicher Vereine konnten in kürzester Zeit ausreichende Finanzmittel akquiriert werden.

Wie geht es dem Jungen, der Familie?
Vor wenigen Wochen war der Junge mit seiner Mutter zur dritten Kontrolluntersuchung nach erfolgreicher Therapie in Münster – und die Ergebnisse sind weiterhin gut. Die Familie lebt seit einem Jahr wieder glücklich in Sibirien.

Wo sehen Sie sich, wenn Ihr Sohn in der Pubertät ist, welche Zukunftspläne haben Sie für sich und Ihre Familie?
Oha, Pubertät, naja, die liegt hoffentlich noch in weiter Zukunft. Ich hoffe, bis dahin Emil noch ein zwei Geschwisterchen geschenkt zu haben. Weiterhin glücklich und zufrieden sein. Und ich möchte auch noch mit 81 Jahren Skifahren können. Das sollte alles machbar sein.

Wie wichtig ist Ihnen Mut?
Ich erlebe bei meiner täglichen Arbeit, dass ich mit meiner Geschichte, ohne große Worte zu machen, ein Mutmacher zu sein scheine. Diese Geschichte unter diesem Gesichtspunkt noch mehr Menschen zugänglich zu machen, das ist für mich eine attraktive Perspektive.

Eine ohfamoose Idee, wir wünschen Ihnen alles Glück dafür!

Herzenswünsche e.V. leistet Großartiges. Simon drückt das so aus: „Kindern und Jugendlichen in Situationen der tiefsten Verzweiflung, unbändiger Trauer und bodenloser Abgründe diese Kraft und Perspektive spendenden Erlebnisse zu bieten, ist ein wunderbares Konzept. Auch die Verbundenheit zu uns ‚Wunschkindern’ zeichnet den Verein aus.“

Das Familienhaus Münster liegt in direkter Nachbarschaft zum Universitätsklinikum Münster (UKM). Dort werden Menschen, die oft von weit her kommen, mit häufig lebensbedrohenden Erkrankungen behandelt. Das Familienhaus erleichtert den aus ihrem gewohnten häuslichen Miteinander herausgerissenen Familien den Alltag und schafft Patienten und ihren Angehörigen in schweren Zeiten Orte des Rückzugs und der familiären Geborgenheit.

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