Andreas Weber beschäftigt sich viel mit unserem Verhältnis zur Natur, gerade auch mit Sicht auf die Kleinsten in unserer Gesellschaft. Er ist Autor, Journalist, Politikberater, Biologe und Philosoph. Wir haben uns mit ihm über seinen Bestseller ‚Mehr Matsch! Kinder brauchen Natur‘ unterhalten. In diesem Interview sagt er z.B.: Großeltern „können gegenüber den gestressten und leistungshungrigen Eltern die schützende Stimme sein, die an das Unkontrollierbare in der Lebendigkeit erinnert.“ Und warum sich in seiner Gartentischschublade Tote Insekten häufen, erfahren wir auch.
Herr Weber, die emotionale Bindungsfähigkeit von Kindern, so heißt es im Klappentext zu Ihrem Buch „Mehr Matsch! Kinder brauchen Natur“, würde gar verkümmern. Gehen Sie da nicht ein bisschen weit?
Nein, ganz im Gegenteil. Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der die Bindungsstörung die Regel ist, in der es nicht um das Aushandeln von Bedürfnissen in Gegenseitigkeit geht, sondern um das Optimieren und Durchboxen des unverbundenen Selbst. Nicht umsonst beobachten Psychologen seit Jahren eine Zunahme schwerer Persönlichkeitsstörungen wie dem Borderline-Syndrom oder pathologischem Narzissmus. Man könnte ja mit Fug und Recht sagen, dass wir in einer narzisstischen Gesellschaft leben: in einer Gesellschaft, in der immer der andere Schuld ist und wir andere Menschen und Wesen allenfalls für die Befriedigung unserer eigenen Bedürfnisse „vernutzen“. Dafür müssen diese anderen möglichst effizient auszubeuten sein. Das gilt für die Natur – aber eben auch für uns selbst. Und für unsere Kinder. Gegen diesen Leistungsstress, gegen dieses falsche Selbst hilft am besten der Bereich, der nicht vom Menschen kontrolliert wird und der eben von jeher schon er selbst sein konnte: die Welt der anderen Wesen, die Natur.
Was kann man tun, wenn Kinder aufgrund städtischer Ballungsräume den Kontakt zur Natur verlieren? Alle aufs Land ziehen?
Auf dem Land ist es ja nicht besser. Da sitzen die kids auch drinnen hinter den Schirmen. Es ist doch so: Was wir nicht in uns haben, finden wir auch nicht draußen. Ohne seelische Freiheit nützt auch das schönste Landleben nichts. Wichtiger als ein ordnungsgemäßes Biotop ist vielmehr das Zutrauen der Eltern, dass Kinder ein eingebautes Programm zur seelischen Gesundheit haben, einen Instinkt dafür, das Richtige für sich selbst zu tun, gesunde Bedürfnisse zu empfinden und diese befriedigen zu können. Das muss man ihnen nicht mit Notendruck anerziehen. Und umgekehrt können Kinder auch in der Großstadt wild und unkontrolliert sein, wenn wir sie gewähren lassen.
Ist das die „pädagogische Poetik des Lebendigen“, von der Sie schreiben?
Die pädagogische Poetik des Lebendigen heißt, dass wir ein Bedürfnis nach Lebendigkeit in uns tragen, dass dieses Bedürfnis nicht auf totale Allmacht zielt, sondern darauf, sich im Einklang mit anderen zu verwirklichen, und dass wir dafür keine Erziehungsprogramme brauchen, sondern zunächst die tiefe Erfahrung, wie es ist, mitten unter Leben lebendig zu sein. Das ist Albert Schweizers Erkenntnis: Wir sind Leben, das Leben will, inmitten von Leben, das Leben will.
Warum haben Sie im Laderaum Ihres Autos dauernd Knüppel und Felsbrocken liegen? Warum häufen sich in Ihrer Gartentischschublade tote Insekten?
Auf diese Weise kann man das Draußen symbolisch nach innen tragen. Wenn Sie so wollen, sind das alles Reliquien auf einem Altar. Anderseits lassen sie sich jederzeit praktisch nutzen.
Sie plädieren für ein „glückliches Verwildern“ von Kindern. Müssen Oma und Opa also ein Biotop anlegen um ihre Enkel zu beglücken?
Es geht bei Kindern nicht um die materiellen Ressourcen. Sie brauchen kein Naturschutzgebiet und kein Biotop, nur einen Raum, in dem sie etwas verändern können und nicht von Erwachsenen kontrolliert werden. Sie brauchen Freiheit, nicht Totalversorgung.
Sie raten Eltern u.a. dazu „sich infizieren zu lassen“. Sie meinen damit, kurz zusammengefasst, sich auf kindliche Experimente einzulassen, sich für das zu faszinieren, was das Kind toll findet und sich eben genau für das Zeit zu nehmen. Können das nicht gerade auch Großeltern sehr gut – v.a. wenn Eltern heutzutage oft ohne Smart Fon nicht mehr leben können?
Ja. Dafür sind vielleicht heute gerade die Großeltern gut – denn die haben anders als die Eltern die nötige Gelassenheit und erinnern sich auch an ihre Kindheit, in der sie regelhaft ganz frei und ungebunden waren und etwa in ausgebombten Ruinen spielen konnten. Oder natürlich im Wald. Sie können gegenüber den gestressten und leistungshungrigen Eltern die schützende Stimme sein, die an das Unkontrollierbare in der Lebendigkeit erinnert. Die wissenden Zeugen, die zulassen, dass ein bindungsfähiges Ich nur entsteht, wenn dessen Bedürfnisse akzeptiert und nicht pathologisiert werden.
Dr. phil. Andreas Weber, geb. 1967 in Hamburg, studierte Biologie und Philosophie in Berlin, Freiburg, Hamburg und Paris. Er promovierte bei Hartmut Böhme (Berlin) und Francisco Varela (Paris) über „Natur als Bedeutung. Versuch einer semiotischen Theorie des Lebendigen“. Journalistische Arbeiten seit 1994, vor allem für GEO, Merian, Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, National Geographic, mare, Greenpeace Magazin, Oya. Seit 2003/2004 ist er Lehrbeauftragter im Fach Journalistik an der Uni Hamburg. Er lebt mit seinen zwei Kindern in Berlin und im italienischen Varese Ligure, in der Nähe von Genua.
Text: Elke Tonscheidt